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von Nikolaus Wyss / 17.4.13: Brief aus Anatolien. Meine Mutter war in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit einer türkischen Kunsthistorikerin U. befreundet, die mit einem Schweizer verheiratet war und mit ihrer Familie in Zürich lebte. Diese Freundin suchte ab und zu sowohl aus beruflichen als auch aus familiären Gründen ihre alte Heimat Ost-Anatolien auf. Einmal beschloss Laure Wyss, sie spontan zu begleiten. Das Briefpapier stammt vom Otel Tatlicilar in Diyarbakir.

«17.4.71
Lieber Chlöiser, gegenüber Deinen Unternehmungen ist meine bescheiden, aber ich finde Kleinasien erregend. Es hat auch sein Gutes, wenn man sich auf eine Reise überhaupt nicht vorbereitet, nicht einmal geographisch, so falle ich von einem Erstaunen ins andere. Momentan sind wir im „wilden Kurdistan“, nahe der syrischen Grenze. U.s Vater stammt von hier, auch ihre tscherkessische Grossmutter, selbst war sie als Kind hier, das macht alles sehr spannend. Heute waren wir fast am Vansee. Wir besichtigen Moscheen nach U.s Plan (für ein Buch), ich photographiere! Hier scheint alles ein Schmelztiegel der Völker zu sein u. der verschiedenen Glaubensrichtungen, Islam und Christentum überlappen sich. Der Islam macht einem einen viel tieferen Eindruck hier als in arabischen Ländern. Die Landschaft ist grossartig, anatolisches Hochplateau, kalt und doch südlich. Der Chauffeur der Mutter von U. fährt uns, […] Hasim; männlicher Schutz ist vonnöten, denn Einheimische folgen wie Trauben dutzendweise unsern Spuren. Letzte Nacht wurde das Auto ausgeraubt, der Dieb aber wurde gefasst, alles ist wieder da. Morgen geht’s ans Mittelmeer, nach Tarsus (Geburtsstadt von Paulus). Wo Du Dich auf der Welt wohl befindest? Fandest du J.-P.? Trafst du M.? Ich grüsse Dich in Gedanken täglich und oft und hoffe zum grossen kleinasiatischen Himmel, dass es Dir wohlergeht. Ich hoffe in Istanbul eine Zeile von Dir zu finden, dass ich meine Sorge los bin. Jetzt wird das Abendgebet vom Minarett geschrien und die Gläubigen verbeugen sich und werfen sich auf den Boden. […] Sei umarmt, mein lieber Minet. Deine Mutter.»