NW_Vaters_Augen
von Nikolaus Wyss / 18.01.13Den Vater im Blick. «Winkelwiese, 4. August [vermutlich 1988]
Mein lieber Chlous
(…) Am Mittagstisch im ,Bären’, grad vor einer Woche, sah ich Dich in einem Winkel, der mir neu war, und ich konstatierte, dass Du die Augen – oder vielleicht einfach den Blick – Deines Vaters hast, das hat mich seltsam berührt und tief gefreut. Ich dachte schon immer, dass Du die rasche Gescheitheit Deines Vaters geerbt hast, seinen klugen Kopf, das war von jeher ein Vergnügen und eine grosse Befriedigung, und jetzt entdeckte ich die Aehnlichkeit im Blick. (…)»

Es ist in diesem Falle wohl weniger meine Eitelkeit, die mich antreibt, diese Briefstelle ins Blickfeld zu rücken, als vielmehr das seltene Mal, wo meine Mutter meinen Vater überhaupt erwähnt, und dies erst noch in positivem Sinne. Sie lässt durchscheinen, was sie an diesem Manne attraktiv gefunden hatte, damals, als sie sich mit ihm anfreundete und sich von ihm schwängern liess. (Wie es weiterging mit den beiden, erzählt ausführlich das Buch «Mutters Geburtstag».)

Wir sitzen also in einem «Bären» auf einem unserer Fahri (so nannten wir in der Familie die relativ ziellosen Autoausflüge übers Land und durch abgelegene Ortschaften, wo dann in einem «Bären» oder «Leuen», im «Rössli» oder «Goldenen Schwert» abgestiegen und eine währschafte Mahlzeit eingenommen wurde), und meine Mutter sieht in meinen Augen Züge meines Vaters. Dies wäre weit weniger verwirrlich gewesen, wenn mein Vater bei meiner Mutter in positiver Erinnerung gespeichert gewesen wäre. Aber die Sachlage wollte es, dass die Ähnlichkeit mit dem Vater Sprengstoff in sich barg. Sollte ich ausgerechnet diesem Manne nachschlagen, der meiner Mutter das Leben ziemlich schwer gemacht hatte? Und was würde das dann bedeuten für die weitere Entwicklung meiner eigenen Persönlichkeit und für Mutters Einschätzung von mir?

Als ob sie das Zwiespältige ihrer Aussage ahnt, hängt sie, kaum hat sie die Ähnlichkeit des Blickes entdeckt, Lobendes über meinen Vater an und lässt so durchblicken, dass es offenbar doch Gründe gab, wieso sie sich seinerzeit auf ihn eingelassen hatte. Beim Wiederlesen dieser Briefpassage fällt mir dazu heute noch ein, dass meine Ähnlichkeit zum Vater auch Verpflichtung bedeutete. Ich hatte es bis zu einem gewissen Grad in der Hand, diesem Mann wenigstens halbwegs wieder Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihn einem Menschen ähneln zu lassen, den meine Mutter über alle Zweifel hinweg liebte.