von Nikolaus Wyss / 27.3.13: Der Geburtstagsbrief von 1971. Im Brief zu meinem Geburtstag reagiert meine Mutter auf einen offenbar zornigen Brief, den ich zuvor geschrieben hatte und der sich mit den ungerechten Zuständen in diesem Kolumbien befasste und mit dem ausbeuterischen Kapitalismus. Der Zorn schien sich mit grippeähnlichem Fieber zu vermischen.
Mutters Brief ist ein schönes Beispiel, wie sehr sich ihr journalistisches Talent zum Recherchieren auch im Umgang mit der leichten Erkrankung ihres Sohnes weit weg in Kolumbien zeigte.

«9.2.71
Lieber Minet
das Zorniger-Junger-Mann-Aerogramm kam gestern, mit schönen Marken. Der Zorn kleidet dich gut, am 22. Geburtstag einen wilden Zorn zu haben ist sicher ganz bekömmlich. Nur das mit der Grippe gefällt mir nicht so ohne weiteres, gehe doch einmal zu einem Arzt. (es gibt den jüdischen Arzt, Internist, der die Pianistin Erika Wolfensberger geheiratet hat, der soll sehr gut sein. Die Adresse gibt man Dir sicher auf dem Konsulat. Dem kannst du einen Gruss von Prof. Schmid sagen […]. Dann könntest Du auch die junge Frau F. anrufen und fragen, die sind mit einer kolumbianischen Aerztin, die in ihrem Haus wohnt, scheints befreundet und haben, schon wegen der Kinder, sicher sympathische Beziehungen zur Aerzteschaft. Die Buchholzens [Buchhändler] kennen sicher ehemalige deutsche Aerzte. Ich bin nicht ängstlich, aber in diesem so andern und sicher anstrengenden Klima muss ein Europäer schon aufpassen. Beiliegend ein Lappen [= 100 Schweizer Franken] für das oder anderes. Für ein tolles Geburtstagsessen vielleicht? Wie gern würde ich Dir eins kochen. (Bin in dieser Hinsicht frustriert.) An Deinem Geburtstag werde ich etwas unternehmen, das mich aus meiner Lethargie herauszieht und aus dem kränklichen Januar, entweder München oder die Westschweiz mit Y. und A.-C. [einer Nichte], wohl eher B. [Freundin in München] (Wir stehen unter dem Eindruck der Entgleisung des TEE München-Zürich. Leonard Steckel [Schauspieler] wurde getötet.)
Doch zu Deinen 22. Heiteres, mein Lieber! Alle herzlich guten Wünsche für Dich. Das mit der Sanchez-Pleite ist Pech, aber das erste grössere Deiner südamerikanischen Unternehmungen. Und Schwierigkeiten stärken. Ich wünsche dir trotzdem, dass Du bald eine gute Unterkunft findest. Ich halte die Daumen. […]
Zu meinem Geburtstag wünsche ich mir dann ein Telefongespräch mit Dir, das Du aufgeben müsstest auf meine Rechnung. Oder wie liesse sich das machen? Wir müssten es schon verabreden, dass ich dann zuhause bin spät nachts. Wenn Du es einmal gäbig tun könntest, sag es mir doch, könnte ja geburtstäglich vor Juni sein, näher Deinem Geburtstag. Oder kann ich Dich anrufen? Wo? Wann?
Ich grüsse Dich am 20. mit grosser Freude an Dir. Deine unzulängliche Mutter»