von Nikolaus Wyss / 11.3.13: Eine verspielte Seite.
Auch wenn meine Mutter gerne und viel lachte, gehörten Verspieltheit und Fantasiererei vielleicht nicht gerade zu ihren bekanntesten Eigenschaften. Doch sie liebte Menschen, die witzig waren und skurrilen Hobbys frönten, und sie konnte leicht eintauchen in andere Welten und dort mittun. So mochte sie zum Beispiel José ganz besonders, den Ehegatten der Wirtin Mireille. Sie führte in Mornac an der französischen Atlantik-Küste ein Restaurant. Meine Mutter nahm dort regelmässig ihre Suppe ein und ass anschliessend gebratenen Fisch. War das Restaurant gut besetzt, half José aus beim Servieren. Josés Leidenschaft aber manifestierte sich in den 235 Plüschbären, die ein ganzes Zimmer füllten und ihm wegen deren unabhängigen Art mit Badeausflügen in die Seudre oft Sorgen bereiteten. Diese Ausgangslage inspirierte meine Mutter zu einem längeren poetischen Text. Anführer der Bären war Lascar, der dem Text und auch dem ganzen Gedichtband den Titel verlieh. Dass Laure Wyss diese Geschichte zu Papier brachte, kostete übrigens den Sohn viel Mühe und Zuspruch.
Gerne erinnere ich mich auch an Momente meiner Kindheit, wo ich intensive Freundschaften zu imaginären Freunde und Tieren pflegte. Meine Mutter ging auf meine Marotten mit grosser Geduld und gebührender Ernsthaftigkeit ein und erkundigte sich immer wieder einmal, wie es meinem Lieblingshund Sämi, dem Affen Bongo oder dem Zebra Ritza gehe, die ich jeweils vor den Eingängen zur Bäckerei oder zur Metzgerei anband und sie dort schön warten hiess. Beim Verlassen der Läden gab ich ihnen die mir über die Theke gereichte Süssigkeit oder das Wursträdchen zum Fressen. Beim Losbinden aber vergass ich zuweilen ein Tier, und dann war es meine Mutter, welche die Leine löste und das Zebra oder den Affen mit nach Hause führte.
Nun hat mir im vergangenen Jahr eine ehemalige Mitarbeiterin von Laure Wyss, Vreni N., einen Brief zugehalten, der meine Mutter auch in ungewohnt zärtlich-spielerischem Lichte zeigt, auch wenn sie nie aus dem Auge verliert, wer der wahre Adressat ihrer Zeilen ist. Es handelt sich um einen Brief an Seraina, der am 19. November 1983 geborene Tochter ihrer Mitarbeiterin.
«Carona, 12. 12.
Liebe kleine Seraina,
vielen lieben Dank für Deinen schönen Brief. Wie gut du beschreiben kannst, wie schnell Du alles einsiehst, wies so läuft, wie gut du formulierst, Du kleiner Racker. Das gutschreiben hast du von deiner Mama, die mir am 11.11. – da gab es dich noch nicht, liebes Kind, jedenfalls nicht im Bettli, in dem du jetzt liegst – einen ganz tollen Brief geschrieben hat und auch von Papa, der sich ja berufsmässig mit schreiben befasst, ich kenne zwar vorläufig nur ein Gedicht von ihm, aus frühern Zeiten, als er um Deine Mama warb. Das gehört ja alles zusammen, dass Deine Mama und Dein Papa so liebevoll freundlich und ermutigend zu mir und meiner Schreiberei stehen, das ist ganz wichtig für mich, es belebt mich, freut mich, hilft mir weiter. Denn das Mühevolle des Lebens hört eben nie auf, liebe Seraina, auch im altwerden nicht. Deswegen wünschen Dir alle Leute Glück, damit Du das Mühevolle bestehst. Drum ist es gut, dass Du jetzt schon übst, mit Bauchweh und so. Ich wünsche trotzdem, dass es bald vorbeigehe und auch, dass Du durchschlafen kannst – und Mama und Papa auch. […] Aber alle sehen, dass man da etwas Geduld haben muss mit der Seraina: wenn man solche Fingerchen hat wie Du, liebes Kindchen, so feine zarte schlanke, da geht’s eben nicht so glatt und rund wie im Kinderbuch, so wie in alle positiven Ratschlägen. Deswegen wirst Du dann halt auch fähig sein, alles Zärtliche, das auf dich kommt, ganz tief zu geniessen, alle Freuden dieser Welt, die auf Dich warten.
Seraina, sag den Eltern, dass ich kurz vor Weihnachten oder an Weihnachten nach Zürich zurückkomme und mich dann einmal, im Januar vielleicht, wenn Ihr Weihnachten und Neujahr überstanden habt, im Hause melde, wo Du jetzt lebst. Bis da begnüge ich mich mit der Foto, bewundere den eleganten grünen Anzug und Deine schönen Augen, die wunderbare Kopfform.
Hier gabs neulich einen Waldbrand, es loderte wie verrückt im dürren Kastanienwald. Jetzt hats auf alles schwarz gewordene geschneit, man wandert im Nebel. So schaukle ich weiterhin zwischen extremen Gegensätzen, das gehört wohl zu mir, ich finde mich damit ab, neuerdings sehr gut sogar, und endlich macht mir Schreiben ganz grosse Freude.
Sei tausendmal gegrüsst, zusammen mit Mama und Papi und allem, was Du gern hast, was Dich gern hat. Sicher auch das Haus, sicher auch das Nilpferd und der Schlubbi, der ein Hund ist? Oder ein Bär? Oder ein Esel?
Herzlich
Laure»