von Christoph Kuhn / 23.8.2002: 

«Wer Ende der Sechzigerjahre zur damals relativ kleinen Redaktion des «Tages-Anzeigers» stiess, war sofort von der Kollegin touchiert. Raumgreifend schritt Laure Wyss den Gang ab, von weit her hörte man ihr bielerisches Deutsch, ihr tiefes, herzhaftes Lachen, der scharfe Blick hinter den Brillengläsern hielt einen fest, und gleich in den ersten Kontaktaufnahmen gab sie die Melodie an: kein vorsichtiges Lavieren, wie es unserem Deutschschweizer Regionalcharakter so lieb ist, keine Umwege. Nein, es wurde von Anfang an Klartext geredet und Klartext eingefordert, es musste Farbe bekannt und schlüssig argumentiert werden. Kein Zweifel, da bekam man es mit dem zu tun, was in Ermangelung differenzierter Bestimmungen zuerst einmal eine «starke Persönlichkeit» heisst. Im Guten wie im Gefährlichen. Man konnte angeleitet, gefördert, gelobt werden für eine Arbeit – oder eiskalt seziert, mit Sarkasmus terminiert, mit Empörung abgeschmettert werden. Und wenn ich meinte, meine halbe Verwurzelung im Bernbielerischen müsste nützlich sein für die Erwerbung der wyssschen Gunst, so erwies sich das als kleiner Irrtum. Gerade wegen solcher Herkunft wurde dem Neuzuzüger eher mehr abverlangt als zum Beispiel den Luzernern, von denen es in denen Zeiten in der Redaktion wimmelte. […]

Sie blieb ihr Leben lang dem Realismus, der Anschauung, dem Stofflichen, dem mit allen Sinnen Erfassbaren zugewandt. Ein kerniger, körniger Stil, viel Licht, Transparenz, das waren ihre Markenzeichen. Und eben auch die Beschreibung von Abstürzen in die dunklen Abgründe der Verzweiflung, des Selbsthasses, die den verborgeneren Zügen ihres Wesens entsprachen. Die Wahrheitsfindung, das grosse Wort im Journalistenhandbuch, hat sie bis zur, ja manchmal über die Schmerzgrenze hinausgetrieben. […]»

– Tages Anzeiger, 23. August 2002