Schreibtisch Laure Wyss
von Mario Gmür / 26.4.13: Erinnerungen an Laure Wyss. Ich erinnere mich gut an die erste persönliche Begegnung mit Laure Wyss. Es war Ende 1985 oder Anfang 1986. Ich betrat die bereits prall gefüllte Aula der Universität Zürich und erblickte den, wie mir schien, letzten freien Platz in der vorderen Hälfte des Saales auf der Seite, wo auch die Büste von Churchill steht.

Es war ein Klappstuhl zur rechten Seite von Laure Wyss. Zielstrebig beschleunigte ich meinen Schritt und nahm diesen in Beschlag. Ich war unter diesen Umständen sozusagen frei vom Verdacht der Aufdringlichkeit gegenüber einer prominenten Person. Natürlich war mir ihr Name ein Begriff und ich kannte auch ihr Gesicht. Und ich wusste, dass sie mit Personen befreundet war, die mir selber nahe standen. Ich konnte es nicht unterlassen, mich ihr mit der Frage aufzudrängen: «Sie sind doch Laure Wyss? Ich habe von Paul Parin immer wieder mal von ihnen gehört. Und mein Bruder, der Rechtsanwalt, teilt die Praxis mit Beni Gehrig.» Alsbald wusste sie von mir, dass ich Psychiater bin, im Sozialpsychiatrischen Dienst damals.

Was mich auch später immer wieder sehr beeindrucken sollte, war, dass L.W. ihrem Ärger über irgend etwas, das nicht rund lief, lautstark und in recht derben Worten Ausdruck verleihen konnte. «Gottvertori …. chöi die nid emal …. isch doch wohr!» wiederholte sie mehrmals mit ihrem z.T. näselnden Ton in ihrem Dialekt, der irgendwo in Biel oder Umgebung fabriziert wird, weil damals nicht für genügend Platz für das andrängende Publikum gesorgt war . . Mir fiel irgendwann später einmal ein, dass herausragende Schriftsteller, die ich persönlich oder auch nur von ihren öffentlichen Auftritten am Bildschirm kannte, zwei Merkmale haben. Erstens, sie können sich so richtig ausgiebig ärgern über Grosses und Kleines und zweitens, ihr Sprechen wirkt im täglichen Umgang völlig unprätentiös, ja scheint sogar manchmal fast ein bisschen unbeholfen. Ich denke an Meienberg, auch an Diggelmann, Frisch und Dürrenmatt, natürlich nur im Vergleich zu ihrem schriftstellerischen Können. Und so auch Laure Wyss.

Ich erinnere mich nicht mehr, was der Gegenstand der damaligen Univeranstaltung war. Aber, dass wir dann gemeinsam die Universitätsstrasse und dann die Rämistrasse bis zum Pfauen hinunter liefen.

L.W. war eine durchaus schlaue Journalistin. Obwohl sie mit ihren Ansichten im Allgemeinen nicht zurück hielt, beherrschte sie die Zurückhaltung der eigenen Meinungsäusserung, sobald sie etwas in Erfahrung bringen wollte. Sie liess dann ihre Neugier spielen und liess einen spüren, dass sie nicht locker lassen würde, bis sie verstanden hätte, was sie verstehen wollte. «Aber i verstoh nid, warum?! … Aber wieso denn?» Das Crescendo glitt in die Nasallaute.

Als wir die Rämistrasse hinunter gingen, lobte sie einen Professor und Leiter eines Betriebes, der in einem Zeitungsartikel die Freigabe von Haschisch vehement befürwortet hatte, zum Staunen aller, die ihn näher kannten, war er doch sonst immer sehr konservativ und ängstlich. Sie sprach davon, als wäre es eine mutige Heldentat sondergleichen, als hätte dieser den Winkelried wider die repressive Jugend- und Drogenpolitik gegeben. Ich widersprach ihr prompt und sagte, dass diese Stellungnahme bei diesem braven Professor und Institutsleiter nur Altersmut sei, zu dem er gefunden habe, nachdem er endlich nach langem Warten und Drängen zum Ordinarius befördert worden war und sein Karriereziel erreicht hatte. Sie war sehr interessiert daran, das Psychogramm dieses Mannes zu verstehen. Er ist ein «Überich-Bubi», der, wenn er seinen Überich-Haushalt in Ordnung gebracht hat, sein Duckmäusertum plötzlich vergisst und völlig überrascht fadengerade zu einer solchen Zivilcourage fähig ist. «Ganz genau» – meinte sie. Es leuchtete ihr völlig ein. Sie war beeindruckt.

Denn: Sie hasste Feiglinge, aber sie hasste auch Snobs, Wichtigtuer, Unterdrücker, Anpasser.

In der Folge sah ich L.W. immer wieder. Meist bei ihr zu Hause an der Winkelwiese. Einmal sagte sie mir: «Du interessierst Dich ja für mich nur, weil ich Schriftstellerin bin und Du wissen möchtest, wie man schreibt.» Recht hatte sie.

Es gab eine Anzahl Personen, die sie praktisch heiliggesprochen hatte und die von jeglicher kritischer oder negativer Wertung verschont blieben. Ihr Sohn, dessen persönlicher Freundes- und Bekanntenkreis, Beni Gehrig vor allem, auch mein Bruder, Berthold Rotschild, auch Gret Haller. Und manchmal genügte auch nur eine einzige Begegnung mit jemandem, und dieser hatte sozusagen die Aufnahmeprüfung bestanden, konnte ihrer Sympathie und Hochachtung sicher sein. Über solche Begegnungen erzählte sie dann immer wieder etwas, und zwar immer als eine fertige Geschichte, während welcher man sich nie unterstanden hätte, sie zu unterbrechen. Sie schmückte sie nie aus, sondern lieferte meistens nüchtern alle Details, die zum Verständnis der Schlusspointe, auf die sie hinsteuerte, notwendig waren, welche sie mit dem dazugehörigen Gefühlsausdruck, einem Lachen, einer Empörung oder Bewunderung gewissermassen illustrierte. Oft die rhetorische Frage: «Isch das nid wunderbar (nasal)? Das isch doch luschtig? Oder nid? Das isch doch e erbärmlichi Gschtalt?!»

Jedes Wort war wie ein Druck mit kalligraphischer Deutlichkeit gesetzt. Fragen zielten immer auf das Ganze und forderten eine umfassende Beurteilung.
Einmal fragte ich sie: «Was hältst Du eigentlich von Josephsohn?»: Ihre Antwort: «Ja, dä cha scho öppis, dä isch nid eifach son ä Chlütteri».

Eine Schwäche hatte sie für jüdische Gesichter, für das Judentum überhaupt. Sie konnte für jüdisch geformte Gesichter schwärmen, wie wenn sie darin den Ausweis für eine wertvollere Existenz sähe. Überhaupt ihre obsessive Bewunderung für Intelligenz. «Das isch ä Gschidä», eine oft fast reflexartige Formulierung, wenn sie eine Person, die ihr imponierte, kurz charakterisieren wollte.

Ressentiments gegen klischeeartige Frauenemanzipation. Das Schema Die-Frau-Ist-Gut bzw. Der-Mann-Ist-Schlecht war ihr zuwider, auch borniertes emanzipatorisches Getue.

Sie sei zu einer Verhandlung ans Obergericht gegangen, wo mein Bruder als Verteidiger geamtet habe. Sie habe ihn auf dem Weg vom Pfauen zum Hirschengraben getroffen. Vor der Hauptpforte des Gerichtes, wo auch die akkreditierten Journalisten ein und aus gingen, hätten sie sich voneinander trennen müssen, da sie wegen einer kritischen Bemerkung über einen oft betrunkenen Oberrichter in ihrer Kolumne im Züri Leu von der Journalistenbank ausgeschlossen worden war, so dass sie die Gerichtsverhandlung nur aus dem Publikum verfolgen durfte. Da habe ihr mein Bruder gesagt: Da sie persona non grata sei, spiele es keine Rolle, ob sie nun vorne oder hinten hinein gehe. Sie war von ihrer Kränkung ob des Ausgestossenwerdens wie geheilt.

Die Fertiggeschichten, die sie im Tone einer Märchenerzählerin erzählte, mündeten recht oft in ein moralisches Urteil, dem man beipflichten musste. Sie handelten von Ungerechtigkeiten, es waren oft lange zurückliegende Erlebnisse.

Ihr Sohn sei im Gymnasium Rämibühl zur Schule gegangen. Da habe sie dem Rektorat einen Brief geschrieben, dass sie ihn von der Schule nehmen wolle und in eine andere platzieren. Da habe Rektor Voser sie angerufen und ihr gesagt, es gäbe doch überhaupt keinen Grund, den Sohn in eine andere Schule zu versetzen, seine Noten seien doch in Ordnung. Warum sie das mache? «Mir passt es einfach nicht in diesem Gymnasium». «Aber warum denn, Frau Wyss?» «Ich weiss nicht, aber in Ihrem Gymnasium wird das Kind einer Putzfrau nicht gleich behandelt wie die andern Schüler». «Aber Frau Wyss, Sie sind doch keine Putzfrau!» «Eben da haben wir es gerade, das ist ja eben der Beweis!», habe sie geantwortet und das Telefongespräch war beendet. Und Nikolaus habe sie rausgenommen. In die Wut mischte sich ihr Triumph über die entlarvend-schlagfertige Antwort.

Also die Geschichten, die sie erzählte und für die sie Aufmerksamkeit forderte, sollten wenn möglich auch richtig lustig sein: Dass jemand ertappt wurde, hereingelegt, bloss gestellt, jemandem ein Schnippchen geschlagen wurde oder so.

Einmal habe sie in London eine gute Freundin besucht. Ich glaube es war eine Schriftstellerin, Literatin oder Künstlerin. Diese habe zu ihr gesagt: «Schön, dass Du kommst, übrigens Canetti kommt dann auch noch. Er wird noch anrufen», worauf L.W. fragte: «Haben Canettis jetzt eine Wohnung gefunden?», denn sie wusste, dass er und seine Frau, die ein Kind von ihm erwartete oder bereits geboren hatte, auf dem angespannten Wohnungsmarkt von Zürich auf der Suche nach einer neuen Wohnung waren. Da habe sich das Gesicht der Freundin schlagartig verdüstert, sie sei offensichtlich irritiert, ja schockiert gewesen. Sie habe offensichtlich nicht gewusst, dass Canetti verheiratet war, betrachtete sie doch sich selber als Canettis Frau. Kurz darauf sei dann der erwartete Telefonanruf gekommen. Die Frau habe gesagt, dass Laure Wyss von Zürich auf Besuch da sei, und das Telefongespräch sei merkwürdig kurz gewesen. Und dann habe die Frau gesagt: Canetti komme doch nicht. Und kurz darauf hätten die beiden die Wohnung verlassen, und da hätten sie in einer gewissen Entfernung Canetti gesehen, der irgendwie verlegen gewirkt und sich davongemacht habe.
Vor einigen Monaten wurde in der NZZ diese doch eher boulevardeske Kurzgeschichte etwas anders erzählt. Der Autor wusste offensichtlich nichts von der verhängnisvollen Frage: «Hei Canettis jetzt ä Wohnig gfunde?» Richtig schloss der Autor aber, dass Canetti angenommen haben dürfte, dass Laure Wyss von seiner Ehe und der Geburt eines Kindes wusste und dass ein Besuch ihn in eine peinliche Situation gebracht hätte, die er später anderswie habe bereinigen wollen.

L.W. hatte eine gewisse Faszination für Entwicklungen, die anders verliefen, als man erwartete, besonders wenn diese Macht- oder Abhängigkeitsverhältnisse in ihr Gegenteil verkehrten, den Schwachen – vielleicht nur für einen Moment – zum Starken machte.

Ich besuchte sie zum Beispiel kurz nachdem der Skispringer Simon Ammann, der kleine Mann aus dem Toggenburg, den fantastischen Höhenflug an der Olympiade hinlegte, der ihm Gold und Weltruhm einbrachte. «Isch das nid wunderbar?!» sagte sie jauchzend. Sie war ausser sich und freute sich wie alle übrigen Schweizer und Schweizerinnen.

Auch wenn ab und zu raue und derbe Worte flogen, war ihre Sprache so gepflegt wie ihre Wohnung, ihre Bibliothek, ihre Kleidung, ihre Küche. Dass sie am Existenzminimum entlang lebte und auf die Einkünfte journalistischer Aufträge angewiesen war, tat der Gepflegtheit keinen Abbruch.

Sie ärgerte sich sehr, dass der vormalige Stadtpräsident von Zürich, Sigi Widmer, für seine Kolumne im Züri Leu ein mehr als doppelt so hohes Honorar erhielt als sie.

Geschichten aus der Umgebung, aus dem Bekanntenkreis ihres Sohnes, aus der Altstadt und von deren Bewohner. Wer wie was und warum wie viel Geld verdient hat, krank wurde, einen Unfall erlitten hat, eine Stelle bekommen oder verloren, ein Buch geschrieben, eine Wohnung gekündigt oder neu erhalten hat, einen Dollendeckel geklaut hat – an Krebs oder Aids erkrankt und gestorben ist. Ärger über Baulärm vor der Haustüre.

Journalisten und Schriftsteller interessieren sich oft für Psychiater, Anwälte, Sozialarbeiter, weil diese im Unterschied zu ihnen die Menschen aus einer Dienstleistungskompetenz erfahren, während sie diese nur als Futter für ihre Publikationen gebrauchen. Menschen mit helfenden Berufen sehnen sich oft nach darstellenden Berufen und umgekehrt. Schauspielerinnen wollen Sozialarbeiterinnen werden, Sozialarbeiter Schauspieler. Meistens kehren die Sozialarbeiter dann wieder, noch bevor das Burnout sich voll entwickelt hat, zur Schauspielerei zurück.

Manchmal war ich überrascht, wie empfindlich und vorwurfsvoll L.W. reagierte auf Personen, die ihr nach meinem Urteil doch wesensverwandt und ihr sehr gewogen waren und von denen ich annahm, dass sie ihre uneingeschränkte Sympathie hätten.

Zum Beispiel der Psychiater Paul Parin. L.W. gehörte ja zu seinem Freundeskreis, der sich oft am Sonntagabend im «Weissen Kreuz» und später dann im «Bahnhof Stadelhofen» traf. Parin und L. W. wurden beide erst im höheren Alter Schriftsteller. Und Parin bewunderte L.W. deshalb sehr. Er selber war äusserst stolz, als er mit dem Buch «Untrügliche Zeichen von Veränderung» den Ritterschlag zum Schriftsteller erhielt. Und er äusserte sich überschwänglich lobend über Laure Wyss’ Erstlingswerke. Parin hatte, ebenso wie ich es von Laure Wyss vorher beschrieben habe, die Eigenheit, dass er eine Geschichte, eine erlebte Geschichte, druckfertig erzählte und sich im gemessenen deutlich artikulierten Erzählstrom nicht unterbrechen liess. Parin aber konnte episch werden und er erging sich oft auch in einem klug belehrenden Ton in Dingen, bei denen er eine eher rudimentäre Lebenserfahrung oder eine solche aus zweiter Hand aufwies. Z.B. über das Bergsteigen oder Skifahren. Wenn das Gespräch auf Parin kam, geriet L.W. wiederholt in einen stürmischen, nicht enden wollenden Ärger über ihn, dass dieser ihr immer so kluge Belehrungen erteile, z.B. wie man mit Verlegern oder mit Interviewanfragen umgehen müsse, wovon sie doch schliesslich viel mehr verstehe als er. Diese unverfroren geäusserte Antipathie legte sich später, als Parin auf ihren Gedichtband einen langen, wohl formulierten Huldigungsbrief schrieb, diesen enthusiastisch lobte und betonte, dass sie im Gegensatz zu ihm eben eine wahre Dichterin sei.

Und dann auch die Kollision mit Meienberg, der doch irgendwie ein Gesinnungs- und Leidensgenosse war. Da sei er einmal bei ihr an der Winkelwiese auf Besuch gewesen. Und dann habe sie diesen beenden müssen, da sie in der Stadt etwas zu erledigen hatte. Nun seine Frage, ob er währenddessen sich bei ihr für ein Nickerchen zur Ruhe legen dürfe. Und das habe sie nun wirklich nicht gewollt und ihm verweigert, und er habe sehr gekränkt und verständnislos reagiert. Es kam mir so vor, wie wenn ein sozial gesinnter Villabesitzer die Zigeuner nicht in seinem Garten campieren lassen will.

Lob und Ehrung, zumal von magistraler Warte, liessen sie Abneigungen vergessen.

Über Moritz Leuenberger sprach sie in den höchsten Tönen, als sie einer Gerichtsverhandlung beigewohnt hatte, wo dieser als Verteidiger gewaltet hatte. Mit voller Bewunderung für sein frei gehaltenes, brillantes Plädoyer. Als er ein Buch im Limmat Verlag herausgab, nun bereits Bundesrat, zog sie aber über ihn her, weil er, wie sie vernommen habe, dem Verlag, der auch ihr Verlag war, täglich angerufen habe, um sich nach den täglichen Verkaufszahlen zu erkundigen. Später keine Spur mehr von negativer Beurteilung des von vielen als Opportunist verschrienen Karrierepolitikers (ich selber habe ihn aber immer als eigenständig, souverän und mutig wahrgenommen), als er 2001, mitten in den Wirren des Zuger Attentates, als Bundespräsident sie zu einem öffentlichen Gespräch im Theater Winkelwiese einlud, das dann in Buchform erschien. Er verzichtete auf seinen Anteil der Tantiemen.

Grosse Achtung für Regierungsrat X, der sie zu einer Preisverleihung mit der Staatskarosse persönlich an der Winkelwiese abgeholt habe. Ich konnte mich nicht zurückhalten zu sagen, einmal mehr: Aber Regierungsrat X ist doch der reine Opportunist, sozusagen der personifizierte Opportunismus, genau jene Art von Persönlichkeit, die Dir ganz gegen den Strich geht. «Isch wohr?» entgegnete sie und liess meinen Einwand nachdenklich im Raum stehen. Hatte sich doch dieser Regierungsrat, wie sie erfahren hatte, gegen den Widerstand der Regierungskollegen für die Preiszusprechung an sie durchgesetzt.

Es ist immer eine Pikanterie, wenn Gutmenschen auf schlechte Menschen treffen. Wie reagieren sie dann?

Einmal ging L.W. in Schwamendingen über einen Feldweg, sah in einiger Entfernung einen etwas ausgeflippt wirkenden Jungen, sie nahm ihn ins Visier, beäugte ihn, aber setzte ihren Gang entschieden fort, auf Vorurteile und Abwehrmanöver verzichtend, und dann passierte es, dieser entriss ihr ihre Handtasche, und sie erwachte einige Augenblicke später am Boden liegend, etwas abseits vom Feldweg in der Wiese, aus einer Bewusstseinstrübung auf. Sie verlor keine Worte über den feigen Übeltäter. Ihr ganzer Ärger bezog sich auf die Sekunden ihrer Erinnerungslücke zwischen dem Angriff und ihrem Aufwachen, auf den Kontrollverlust. Die amnestische Lücke irritierte sie nachhaltig. Das Gleiche war, glaube ich, früher Goldy Parin widerfahren, der Frau von Paul Parin, vor der Haustüre am Utoquai. Und L.W. steigerte sich in eine merkwürdige Rivalitätshaltung dieser gegenüber. Wer hat den grösseren Schaden, das grössere Trauma erlitten? Die Wandlung der Rivalitätsobjekte im Lebenszyklus: Wer hat die grössere Schuhnummer (Primarschulalter), das bessere Smartphone (Sekundarschulalter), die grössere Villa (Midlifecrisis), mehr Enkelkinder (Pensionierung) und schliesslich die grösseren Altersbeschwerden (Altersheim)?

Wir interessieren uns für die Sympathien und Antipathien von andern, insbesondere von unseren Idolen, weil wir daran ablesen können und wollen, wie diese uns beurteilen. Wir testen diese und passen, wenn wir ihre Zuneigung haben wollen, unsere Ansichten den ihren an. Bei L.W. geriet dieses Prinzip oft ins Wanken. Mich erstaunte immer wieder, wie sie Plus- und Minuspunkte verteilte, Lob und Tadel. Immer wieder grosse Achtung für den Schriftsteller Hugo Loetscher (der sich rührend um seine Schwester kümmerte), Gret Haller, aber auch für Moritz Suter, den Nachbarn vom oberen Stock an der Winkelwiese, fast hasserfüllte Abneigung gegen das Ehepaar U., den Psychiater H., die Journalistin K. Ich glaube, auf Wichtigtuerei und Snobismus reagierte sie besonders empfindlich.

Ich bin von Nikolaus Wyss gebeten und dann wiederholt aufgefordert worden, etwas zum Geburtstag von Laure Wyss für diese Internet-Plattform beizutragen. Ich spreche nicht gerne in die Kamera, aus Angst, nicht die richtigen Worte zu finden, zu viele oder zu wenige, oder unpassende. Und ich schreibe nicht gerne, letztlich aus demselben Grunde. Bei Künstlern überschätzen wir m.E. sehr oft die Bedeutung ihrer Person, die wir nur allzu oft auf moralische Befunde abklopfen. Ihre Bedeutung erlangen diese aber durch die Qualität ihres Werkes. L.W. arbeitete an einem Schreibtisch, den ich nach ihrem Ableben von ihrem Sohn Nikolaus zu einem symbolischen Preis erwarb.

Als ich auf einer Ferienreise in Feuerland war, schrieb ich ihr eine anonyme Karte, «Grüsse aus Feuerland», in Anspielung auf ihr Buch, und verriet ihr meine Autorenschaft erst einige Wochen später, als ich sie wieder einmal sah. Heiterkeit.

Ich kam nie auf den Gedanken, ihr eine persönliche Frage zu stellen, über ihre Kindheit, ihre Jugend, ja überhaupt über ihr Leben, in Biel und in Schweden. Und wir legten unsere Gespräche nie auf Tiefsinn an. Ich persönlich geniesse es irgendwie, mit bedeutenden Leuten triviale, vordergründige Gespräche zu führen im Wissen um die Tiefe und Hintergründigkeit, die nicht absichtlich aufgesucht werden.

2002 lud ich sie zu einem Nachtessen in Andy Stutz’ Seidenspinnerei ein. Übrigens Lausbuben und Schelme, wie er, mochte sie sehr gerne. Aber unser Abend geriet etwas schief. Erstens liessen Andy und seine Schwestern zu laute Musik laufen und zweitens hatte der listige Andy Stutz vier L.W.-Fans, vier Frauen, gleich am Tisch nebenan platziert, die sich in unser Gespräch verständlicherweise einmischten.

Ich glaube, es war meine letzte persönliche Begegnung mit Laure Wyss. Ich habe nachgeschaut: Es war der 2.März 2002.

Einige Wochen oder Monate später rief sie mich an und sagte, im Ton einer kurzen und
eiligen Mitteilung, sie habe Leukämie, schon seit langem, aber es gehe jetzt dem Ende zu. Sie komme gerade aus dem Spital. Sie werde zu Hause sterben, und es sei gut für sie gesorgt.

Bild: Der Schreibtisch von Laure Wyss in der Praxis des Psychiaters und Autors Mario Gmür mit Blick auf das Grossmünster. 2013 (Privatarchiv Mario Gmür).