von Beatrice von Matt / 21.6.2013:
«Fiction» gilt als die eigentliche, als die wahre Literatur. Erst mit 65 Jahren hat Laure Wyss Erzählungen und Romane geschrieben. Literatur aber hat sie schon in den Jahrzehnten davor geschaffen, als Journalistin und Redaktorin – beim «Tages-Anzeiger Magazin» beispielsweise. Recherchierte Reportagen waren das, die stets vom konkreten Detail ausgingen, Reportagen über Ausgegrenzte und sich selber Ausgrenzende. Über Strafgefangene im Frauengefängnis Hindelbank, über einen jugendlichen Mörder aus einer eingewanderten Familie, dessen Wut sich gegen seine Eltern richtete. Man las Berichte über Schwarze und über Ausländerinnen, über Themen wie „Kind und Stadt“ oder „Das eheliche Prügeln“. Bei der heutigen Wiederentdeckung des Dokumentarischen liesse sich wohl auch der Kunstcharakter dieser wahren Geschichten neu sehen.
Ich kenne keine Autorin, die einen härteren Umgang pflegte mit der Welt und mit sich selbst als Laure Wyss. Keine zugleich, die so viel gescheite Einschätzung des Gegenübers verriet und zugleich so viel Nähe zu diesem Gegenüber. So, ganz genau so, fasste sie auch ihre erzählten Figuren an, mit kritischer Distanz und – wenn sie es verdienten – mit Anteilnahme, einer ihr ganz eigenen Empathie. Den Abstand aber gab Laure Wyss nie preis, sie signalisierte ihn mit jeder Zeile. Das war das Befreiende an der Zeichnung ihrer Menschenwelt, auch dann noch, wenn diese Menschenwelt aus verkappten Selbstporträts bestand, wie das in den Büchern oft der Fall war.
Diese Schreibhaltung hatte sie sich in der langen Zeit ihrer journalistischen Arbeit erworben.
Sie selber machte nie einen Unterschied zwischen Journalismus und Literatur. Sie sagte: «Ich war immer der Meinung, man schreibt gut oder man schreibt schlecht. Ich fand nie, dass das literarische Schreiben etwas Höheres sei als das journalistische Schreiben. Es ist kein Ausweis, dass man besser schreibt, wenn man zwischen zwei Buchdeckeln erscheint, als wenn man in der Zeitung erscheint. Ich empfand also meine journalistische Arbeit nicht als minderwertig.»
[…]
Statt Menschenfiguren standen in ihren poetischen Werken eher Glücksmomente im Vordergrund, das Meerlicht, der Wind. Die Verse lösten Ratlosigkeit aus bei jenen, die von dieser Autorin Stellungnahmen erwarteten. Sie aber wehrte sich: «Lascar» sei anders zu lesen, nicht «direkt», sondern «indirekt». Es sei diesmal, «eine Frage des Rhythmus verstanden zu werden».
Klammheimlich – am liebsten würde ich sagen «heimlifeiss» – hatte sich die aufgeklärte Schriftstellerin auch noch zur Zauberpoetin gewandelt.
Laudatio von Beatrice von Matt vom 21. Juni 2013, gehalten im Zunfthaus zur Schmiden Zürich.
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