Das unvollständige Datum
von Nikolaus Wyss / 14.12.12: Das unvollständige Datum. Für ihre Briefe benutzte sie zu ihren Zeiten als Redaktorin meistens die Schreibmaschine. Ich nehme an, sie schrieb diese im Büro. Später wechselte sie mehr und mehr zu Handschriftlichem, auch wenn ihre Briefe dadurch nicht gerade lesbarer wurden. Von Hand schrieb sie meistens auf A5-Blättern.

Aus der Distanz von Jahrzehnten beschäftigt mich allerdings etwas Anderes: Ich kann ihre Briefe nur sehr ungenau einem bestimmten Jahr zuordnen. Ob einer aus dem Jahre 1975 stammt oder aus 1981 erschliesst sich erst aus dem Kontext, und auch dieser ist nicht immer eindeutig. Es scheint, als ob sie ihren Briefen keine historische Bedeutung beigemessen hätte. Wäre die Nennung des Jahres für sie mit zu viel Pathos verbunden gewesen? Ihren Briefen an mich schien sie keinen historischen Wert beizumessen. Sie wurden ganz aus dem Moment und für den Moment geschrieben. Sie beziehen sich auf die letzten Begegnungen, auf die Zweifel und Erfolge ihres Sohnes und auf die eigenen, auf den Austausch aktuellen (Verwandten-)Klatsches, jetzt, am 14. September oder am 19. Oktober. Das hatte zu genügen. – Konnte sie sich überhaupt vorstellen, dass ich ihre Briefe aufbewahrte, sei es aus Respekt oder weil sie mir tatsächlich etwas bedeuteten, oder weil ich mir vornahm, sie später einmal wieder zu lesen, dann, wenn sie vielleicht schon tot sein würde?

Bei mir liegen ihre Briefe stossweise in Schachteln herum, ungeordnet, gedacht für später. Ist dieses Später nun da? Bald würde meine Mutter hundert Jahre alt. Ein guter Anlass, die Postsendungen an mich wieder einmal hervorzunehmen und zu sichten. Nicht systematisch und wissenschaftlich sondern nach dem Zufallsprinzip. Wühlen, hervorklauben, lesen, wieder weglegen, weiter wühlen, innehalten, sich erinnern, sich ein paar Gedanken dazu machen, etwas schreiben, weiter wühlen, übergehen, erschöpft liegen lassen, noch einmal lesen, fantasieren, rot werden…