
von Nikolaus Wyss / 14.12.12: Briefe als Bindemittel. Ich könnte ihre Briefe zählen. Meiner Einschätzung nach sind es weit über hundert. Dann hätte ich sie wenigstens alle wieder einmal zur Hand gehabt. Ich lasse es. Ich könnte sie ordnen und versuchen, die unterlassenen Jahreszahlen herauszufinden. Auch diese Arbeit lasse ich bleiben. – Mein Privileg als Sohn besteht in der launischen Anwendung eines emotional gesteuerten Zufallsprinzips…
Für den Zeitraum von 1970-72 jedoch besteht eine gewisse Ordnung. Eine systematische Auswertung dieses Teils würde sich deshalb anbieten. Damals weilte ich in Lateinamerika und brachte bei meiner Rückkehr ihre Briefe gebündelt in einem grossen Umschlag zurück. Dreissig Jahre später, als meine Mutter starb, fielen dann ergänzend dazu noch meine eigenen Lateinamerika-Briefe an sie wieder in meine Hände. Eine Weile glaubte ich, auf Grund dieser Faktenlage bereits das Herzstück meines Vorhabens gefunden zu haben. Die Dokumente waren vollständig, chronologisch geordnet und ein eindrückliches Beispiel für den aufwendig inszenierten Loslösungsversuch eines Sohnes von seiner Mutter und umgekehrt, der sich insofern als Fiasko erwies, als die Briefe über die Zeit eher inniger wurden, statt sich allmählich auf einem emotional etwas blasseren courrant normal einzupendeln. Für Psychologen ein gefundenes Fressen, ein Fallbeispiel einer gescheiterten Loslösung mittels geografischer Distanz. Ihre Worte wussten mich an sie zu binden. Doch was geht das andere schon an?