Briefe von Laure Wyss
von Nikolaus Wyss / 13.02.13: Zwei Briefe aus Südfrankreich.

Im Jahre 1974 mauserte sich meine Mutter so langsam zur Schriftstellerin, arbeitete an längeren Texten, wie zum Beispiel an den Frauenprotokollen (erschienen 1976) und suchte sich dafür ruhige Plätzlein, was ihr auch immer wieder gelungen ist. Im September jenes Jahres verbrachte sie ein paar Wochen auf dem grossen Anwesen der wohlhabenden Familie Gugelmann in Notre Dame de Grâce bei Cannes.
Zum Verständnis der Briefe noch so viel: vermutlich plauderte sie im Vorfeld von ihrem Vorhaben und von der Riesen-Villa, die sie bewohnen durfte, und sie weckte so bei verschiedenen Freundinnen die Begehrlichkeit, sie dort unten zu besuchen. Ihrer Freundin B. musste sie darauf absagen, und offenbar log ich den W.s vor, dass meine Mutter dort unten krank sei und keinen Besuch ertrage…

Dann kommt am Ende des ersten Briefes die Lektüre nicht um eine pädagogische Intervention herum, allerdings so verpackt, als ob ich, der wegen seiner Faulheit eigentlich zu kritisieren gewesen wäre, als Vorbild dastehe. Meine Mutter war stets eine Meisterin im umpolen von Kritik, welche aber trotz allem – jetzt aber liebevoll – durchschimmern durfte. Das war eine sehr typische Art von ihr. Und ein letztes: ich bereitete mich zu jener Zeit auf Korsika vor, weil ich dort als junger Volkskunde-Student an einer Feldforschung teilnehmen musste.

1. Brief

«Lieber Klaus
Wegen Handke sah ich weder den Montblanc noch das Meer, die Reise dauerte 5 Minuten. Merci auf den Hinweis, ich habe jetzt auch den Titel für „schöne genaue Geschichten“.
Hier überfiel mich eine derartige Müdigkeit, dass es nur noch für Françoise Sagan längt. Ich glaube, ich werde das Terrain hier in den drei Wochen nicht verlassen, bei Korkeichen, Olivenbäumen, hohem Eukalyptus und Oleander bleiben. Das Meer ist von hier oben schöner, unten Rummel, Leute, Lärm. Also Verbarrikadierung in Notre Dame de Grâce, das ist genau das, was ich nötig habe. Heute habe ich das Zimmer noch nicht verlassen, keine Lust auf Sonne, aber das wird sich geben. Also alles bestens.
Es plagt mich ein wenig, dass ich B. enttäuscht habe, aber ich muss jetzt total allein sein.
Bei Dir hoffentlich auch alles bestens. Ich lerne von dir, nicht tätig zu sein, war es zu sehr.
Herzlichste Grüsse
M.»

2. Brief
«Lieber Klaus,
das Zeitproblem versuche ich nachzuvollziehen, kann es auch teilweise, wenn ich mich an die öde Uni-Zeit zurückerinnere. Nur: Du hast ja vorher ein Stück Welt eingefangen, einen Kontinent lang, das gibt doch mehr Fussfassung, um die Don Quixoterien als solche zu durchschauen – und sie dann nutzbar zu machen für spätere Höhenflüge. Ich glaube nur nicht, dass nichts passiert wenn nichts passiert. Dein heutiges Schreiben-können beweist das pure Gegenteil. Du schreibst sehr gut.
Ich schreibe express nicht aus Not, nur weil die gewöhnlichen Briefe bisher in der Schweiz nicht ankamen. Deiner in 2 Tagen hierher.
Meine neue Telefonnummer: 38.63.67 (code 003393) am besten zwischen 7 und 11 Uhr morgens oder abends spät. Briefadresse dieselbe. Bewohne nämlich eine andere Villa, den Coup de vent, gehe aber vorläufig in Notre Dame de Grâce essen. Alles Gugelmann’sch. Die Domestiken verreisen am nächsten Samstag in die Ferien, dann werde ich Selbstversorger hier. Der Eisschrank ist schon voll! Und dann sind immer noch Gärtner in der Nähe, M. Justin und Jean. Und zwei wilde Schäferhunde, Ulla und Ulysse, mit denen habe ich mich angefreundet, sie bringen mich zwar fast um vor Freundschaft. Ich gehe mit ihnen jeden Abend eine Stunde spazieren und werfe sie in den swimming pool zum Abkühlen. Ulysse schwimmt freiwillig, Ulla macht Lämpen. – Es ist ein hartes Schicksal für mich, jeden Morgen zu entscheiden, ob ich das Frühstück auf der Ostterrasse am Steintisch oder unter Platanen vorn einnehmen soll, ob ich das grüne oder das braune Geschirr wähle, für welches der 2 Badezimmer ich mich entscheide, ob ich im living room oder im Studio die Olivetti bearbeite. Bin dabei, mich zu versiebenfachen, um dem Komfort nachzukommen. Aber Sonne und Wärme, die dunkeln Bougainvillées, die herrlichen Bäume, die farbigen Zinien übertreffen alles. War nur einmal an der Küste mit Mme. Gugelmann, ziemlich schrecklich. (Sie ist verreist jetzt, sie war besser als die Küste übrigens.) Ja, die W.s sind genau das, was mir zu meinem Glück fehlt – die würden sich hier in den rosa Betten wälzen! Kam in Panik, sah mein Arbeitsglück zerrissen, aber gut gelogen, junger Mann. Die Arbeit an den Manuskripten geht besser voran, als ich zu hoffen wagte.
Le Monde brachte bis dato nichts Korsisches, ist voller Chile und Aethiopien, aber ich halte Ausschau. Schade, dass Du nicht von hier aus nach Korsika hinüber schwimmen kannst.
(…)
Habe natürlich Deinen Brief enorm geschätzt, vielen Dank. Er kam am Samstag und war der erste Gruss von aussen. Tagi kommt kaum, fehlt mir mitnichten.
Lass es Dir trotzdem gut gehen, lieber Sohn. Herzliche Grüsse
Maman mère

Habe TV, die actualités sind sehr interessant.»